Bergrutsch Steinbergen

Katastrophe oder Chance für den Naturschutz?

1 2 3 4
  • Der Kammabbruch am Messingberg im Steinbruch Steinbergen. (Foto: Bruno Scheel)
  • Der Kaisermantel ist eine Schmetterlingsart, die besonders in den Übergangsbereichen zwischen Steinbruch und Wald ihre Heimat finden. (Foto: Fotolia)
  • Geburtshelferkröten sind heute weitgehend abhängig von Abgrabungen. Im Steinbruch Steinbergen erreichen sie ihre nördlichste Verbreitung. (Foto: Bruno Scheel)
  • Das Mufflon ist ein eingeführtes Wildschaf, das in steinigen Hängen natürliche Bedingungen wie in der korsischen Heimat vorfindet. (Foto: Fotolia)

11. Dezember 2004

„Erst ein dumpfes Grollen und dann wackelte die Erde wie bei einem Erdbeben“, so ein Zeitzeuge, der nahe des Steinbruches Messingsberg nördlich von Rinteln im Schaumburger Land gelegen wohnt. Was war geschehen? Etwa eine Million Tonnen Gestein hatte sich vom Kamm des Berges gelöst und war in den Steinbruch gerutscht. Ein Bagger wurde verschüttet, Menschen kamen zum Glück nicht zu Schaden.

Der Steinbruch wird von der Norddeutschen Naturstein GmbH (NNG) mit Sitz in Flechtingen betrieben. Das im Steinbruch abgebaute Gestein, ein wertvoller Korallenoolith, findet insbesondere Verwendung im Straßenbau. Als Sicherungsmaßnahme favorisierte die NNG zunächst den kompletten Abbau des Kammes und löste damit heftige Proteste in der Politik, der Bevölkerung und bei Umweltverbänden, insbesondere beim NABU, aus.

Der Steinbruch ist von besonderer Bedeutung für den Naturschutz, befindet er sich doch im Wesergebirge, einer der nördlichsten Ausläufer der deutschen Mittelgebirge. Somit bietet er einen Lebensraum für Arten, die hier ihre nördliche Verbreitungsgrenze erreichen. Der Korallenoolith ist ein Kalkhartgestein; kalkhaltige Böden sind für ihre Artenvielfalt bekannt. Der Steinbruch liegt in den nördlichen Hanglagen, während der Südhang von einem mesophilen Waldmeister-Buchenwald in teilweise sehr steilen Lagen bewachsen ist. Hier wachsen seltene Orchideenarten wie beispielsweise das Weiße Waldvöglein. In den Kammlagen befinden sich verschiedene Spalten und Höhlen, die von Fledermäusen, insbesondere dem Großen Mausohr, als Winterquartier genutzt werden. Zudem finden sich auf den offenen Felsen Fels­biotope mit besonderen Flechten und Moosarten und der Uhu hat in den Steilhängen seinen erfolgreichsten Brutplatz in Niedersachsen.

Das Geröllfeld als spezieller Lebensraum

Ein Teil des Messingsbergkammes ist in den Steinbruch gerutscht und bildet dort einen ganz eigenen, höchst wertvollen Lebensraum für viele Arten. Die entstandenen Schluchten und Felsblöcke, teilweise vermischt mit Oberboden, bieten viele Nischen und Verstecke, in denen sich Pflanzen- und Tierarten ansiedeln können. Die Schattenlagen sind für die natürliche Entstehung eines lückigen Erlen-Eschen-Hangschluchtwaldes geeignet. Eine Ansiedlung des hier an der nördlichen Verbreitungsgrenze vorkommenden Hirschzungenfarns ist wahrscheinlich. Er benötigt steinige Schluchten mit einer hohen umgebenden Luftfeuchte. 

Weitere Kammabbrüche, die aufgrund des instabilen Restkammes vorkommen werden, sorgen für eine dynamische Entwicklung, wie sie auch in natürlichen Bergrutschgebieten üblich ist und dort immer wieder optimale Bedingungen für andere Arten schafft: Kommen zuerst die sich schnell ausbreitenden konkurrenzschwachen Pionierarten, werden diese später von sich langsamer ausbreitenden konkurrenzstärkeren Arten verdrängt. So entsteht ein zeitliches und räumliches Mosaik, welches die Koexistenz von vielen Arten ermöglicht. Das Geröllfeld ist zudem ein hervorragender Lebensraum für die Wildkatze, die sich ausgehend vom Harz wieder nach Norden ausbreitet und inzwischen Süntel und Wesergebirge erreicht hat. Auch das Mufflon, ein Wildschaf, das aus Südeuropa eingeführt wurde, fühlt sich hier besonders wohl.

Der Steinbruch als Ersatz für dynamische Auen

Vom Abbau im übrigen Steinbruch profitieren besonders Amphibien und Heuschrecken, aber auch Libellen- und Tagfalterarten erreichen hier in extensiv genutzten Bereichen besondere Dichten. Schöne Seltenheiten sind der Kaisermantel, dessen Raupen sich von Veilchen ernähren, und der Schwalbenschwanz, der die Wilde Möhre als Nahrungspflanze benötigt. Aber auch die in Niedersachsen vom Aussterben bedrohte Blauflügelige Ödlandschrecke zeigt ihre stahlblauen Flügel, wenn sie auf den Rohböden aufgeschreckt wird. Allein 19 Libellenarten konnten in den Tümpeln und Pfützen des Steinbruches nachgewiesen werden. Auch die Amphibien erreichen hier eine besondere Vielfalt.

Neben den häufigeren Arten Erdkröte, Grasfrosch und Wasserfrosch kommen hier alle vier heimischen Molcharten und der Feuersalamander vor. Besonderheiten sind die Arten, die früher in dynamischen Auen lebten und im Zuge des Abbaus einen Ersatzlebensraum gefunden haben. Neben den melancholischen Rufen der vom Aussterben bedrohten Gelbbauchunke und dem knarrenden Geräusch der Kreuzkröte, die beide ihre Eier in zeitweise austrocknende Gewässer ablegen, hört man nachts ein vielstimmiges leises Pfeifen, das sich wie Glockengeläut in der Ferne anhört: Die Geburtshelferkröte, die auch Glockenfrosch genannt wird, erreicht in diesem Steinbruch ihre nördliche Verbreitungsgrenze. Sie ist die einzige heimische Amphibienart, die Brutfürsorge betreibt. Das Männchen trägt die Eier nach der Paarung um die Hinterbeine gewickelt, bis die Kaulquappen schlupfreif sind. Dann sucht es sich ein tieferes, möglichst pflanzenfreies Gewässer, um den Nachwuchs ins Wasser zu entlassen. Die Geburtshelferkröte ist auf offene Böden angewiesen. Nur dort kann sie ihre Nahrung finden. Steine und lockere Böden, bevorzugt in südlich ausgerichteter Hanglage, benötigt sie für ihre Verstecke, in denen sie sich tagsüber aufhält. 

Wie entsteht Artenvielfalt in Abgrabungen?

„Öde Wüste“ oder „lebensfeindliche Mondlandschaft“ sind Begriffe, die oft im Zusammenhang mit Abgrabungen verwendet werden. Bei genauerem Betrachten sind es aber meistens genau diese Abgrabungen, die in einer Landschaft die höchste Artenvielfalt beinhalten. 

Naturliebhaber suchen nicht selten die Landkarte nach genau solchen „Wunden in der Landschaft“ ab, da sie dort besondere Seltenheiten erwarten. Neben dem sehr unterschiedlichen Relief mit Erdhaufen, Steinhügeln, wassergefüllten Kuhlen und Radspuren, sind ebene Flächen, Hänge mit verschiedener Ausrichtung und eventuell größere Wasserflächen vorhanden. Es wechselt sich lockerer Boden mit durch Befahren verdichteten Flächen verschiedenster Bodensubstrate ab, mal grundwassernah, mal grundwasserfern.

All dies führt zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Lebensbedingungen, die jeweils unterschiedlichen Arten zusagen. Dazu kommt die für Tiere und Pflanzen unvorhersehbare Dynamik, wie sie in natürlichen Auen – einem der artenreichsten Lebensräume Mitteleuropas – herrscht. Mal wird ein Bereich für mehrere Jahre liegen gelassen und dann wieder genutzt, während andere Flächen liegen bleiben. So können sich unterschiedliche Stadien des Ansiedelns und Wachsens von Pflanzen (Sukzessionsstadien) bilden. Ein ganz besonderer Aspekt ist die generelle Nährstoffarmut auf den Rohböden. Während die umgebende Landschaft häufig mit Nährstoffen aus der Landwirtschaft oder aus der Luft überfrachtet ist, entstehen in Abgrabungen immer wieder nährstoffarme Flächen, die konkurrenzschwachen Arten die Chance zum Überleben geben.

Dieser Artenreichtum entsteht allerdings nicht immer. Er ist, wie die Qualität der vorkommenden Arten, abhängig von der Vielfalt der Lebensräume, der Intensität des Abbaus oder davon, welches Substrat ansteht und ob im Nassbagger- oder Trockenverfahren abgebaut wird. Aus unterschiedlichsten Gründen ist die Konzentration von Gesteinsabbau auf möglichst wenige Steinbrüche mit intensiver Bewirtschaftung politisch erwünscht und ökonomisch sinnvoll. 

Aus Sicht des Naturschutzes ist dies jedoch nicht ganz unproblematisch: Eine höhere Zahl kleinerer und extensiver genutzter Abbaustätten wäre ökologisch vorteilhafter. Das alles bedeutet, dass die Art der Abbautätigkeit dafür verantwortlich ist, ob Artenreichtum entstehen kann oder nicht. Angst vor Schutzbestimmungen aufgrund der Ansiedlung seltener Tier- und Pflanzenarten sollte bei Abbaubetreibern nicht bestehen, lassen sich doch im direkten Dialog mit dem Naturschutz viele Konflikte beseitigen und sogar gemeinsame Ziele verfolgen. Eine Renaturierung mit natürlicher Entwicklung und gelegentlichen Pflegeeinsätzen steigert die Artenvielfalt weiter, während eine Rekultivierung – also die Wiedernutzbarmachung – die seltenen Lebensräume oft zerstört. Genauso gibt es Lebensräume, die von so hohem Wert und Seltenheit sind, wie beispielsweise Orchideenwiesen auf Gipsböden und alte Wälder, dass ein Abbau auf diesen Flächen ausgeschlossen bleiben muss. 

Nicht alle Konflikte am Messingsberg sind gelöst

Aufgrund des hohen naturschutzfachlichen Wertes und des prägenden Landschaftsbildes werden der Messingsbergkamm und das entstandene Geröllfeld nun der natürlichen Entwicklung überlassen.Eine entscheidende Forderung des NABU wird dadurch umgesetzt. Ein Zaun sichert den instabilen Kamm vor dem Betreten, sodass keine Unfälle passieren können. Dies ist gleichzeitig ein Vorteil für die Natur, da damit auch die Störung durch Menschen ausgeschlossen ist. Besichtigen kann man das Geröllfeld und den Hangabrutsch sowie seine Entwicklung trotzdem, allerdings aus sicherer Ferne. Dies gelingt bei einem Besuch der Erlebniswelt steinzeichen Steinbergen, die in einem alten Teil des Steinbruches eingerichtet wurde. Zudem erhalten Abbaubetreiber und NABU gemeinsam wichtige Lebensräume in wenig genutzten Randbereichen für die besonders seltenen Arten. 

Ungelöst ist bisher das Problem, dass für den restlichen Steinbruch nach Abbauende eine weitgehende Rekultivierung vorgesehen ist, welche die seltenen Arten der Offenlebensräume verdrängen würde. Hier werden Abbaubetreiber, Flächeneigentümer, Naturschutzbehörden und NABU im Dialog tragfähige, naturverträgliche Lösungen finden. So könnte sich aus einer anfänglichen Katastrophe eine unschätzbare Naturoase, aus einem Gegeneinander ein Miteinander entwickeln.

Der Autor

Holger Buschmann
Dr. sc. nat., Dipl.-Biologe

Holger Buschmann wurde 1972 in Aachen geboren, wuchs aber im Schaumburger Land auf. Er studierte Biologie in Würzburg und promovierte an der ETH Zürich. Anschließend war er als wissenschaftlicher Assistent mit eigener Arbeitsgruppe im Bereich Pflanzenökologie an der Georg-August-Universität  Göttingen tätig, bevor er als Naturschutzreferent für den NABU Rheinland-Pfalz arbeitete. Seit 2009 ist er Landesvorsitzender des NABU Niedersachsen.

Weitere Informationen

Weitere Informationen zum Bergrutsch Steinbergen finden Sie unter www.bergrutsch-steinbergen.de

Karte